Der Fluch der Maienkönigin, Teil 2

Der Fluch der Maienkönigin, Teil 2
von Corvinius (» als pdf herunterladen)


Dorn erwachte, als ein Schrei sich einen Weg durch seine verkrampfte Kehle zu bahnen versuchte. Eine Sekunde lang wusste er weder wo, noch wer er war. Dann fanden die Dinge sich wieder ein: die Ruine des alten Ritterguts auf dem Felsenhügel über dem ehemaligen Grenzweiler namens Aarding. Er war hierher gekommen, weil er vermutete, dass sich seine Jagdbeute hier versteckte.

Eine Jagdbeute, die ihrerseits ein Jäger zu sein schien: Drei junge Frauen waren in Aarding im Laufe des letzten Jahres abgängig geworden, die erste davon hatte man schließlich tot und von Aasfressern zerrissen in der Nähe des Ritterguts im Wald aufgefunden.

Schon vorher hatte es seltsame Berichte über eine dunkle, schwer fassbare Kreatur gegeben, die in den Wäldern rings um das Dorf unvorsichtige nächtliche Wanderer erschreckt haben sollte. Durch den Leichenfund waren die Dorfältesten schließlich beunruhigt genug, einen außergewöhnlich hohen Preis auf den Kopf dieses nächtlich umherstreifenden Ungeheuers auszusetzen. Und sie hatten sogar einen Boten bis hinauf nach Kaer Morhen geschickt, um die Hexer dort um Hilfe anzugehen. Deshalb war er hierhergekommen. Er, Dornhardt von Kaer Morhen, von einer bestimmten, besonders süßen und exquisiten Hure in Novigrad, die er besuchte, sobald Arbeit und Mittel es erlaubten, einst „Dorn“ getauft.

Der Hexer hob den rechten Arm, der zuerst Tonnen zu wiegen schien, sich aber dann offenbar daran erinnerte, dass er ein Teil von Dorns Körper war, und rieb sich seine pochende Stirn, wo der Schwarze Mann ihn mit seiner Klauenhand berührt hatte. Über sich – durch das gähnende Loch, das sich statt des Daches und der Böden der höher liegenden Stockwerke des Ritterguts über ihm befand – konnte er den schwarzen Nachthimmel sehen, jetzt wolkenlos und klar und voller eisiger Sterne, wo sich das letzte Mal, als er hinaufgesehen hatte, nur dunkelgrau brütendes Gewölk gezeigt hatte. Wie lange hatte er ohnmächtig hier gelegen? Er tastete nach seinem Amulett und fand es still auf seiner Brust liegend. Erst jetzt hatte er die Zeit, sich zu wundern, dass es ihn gar nicht erst vor dem Auftauchen des Schwarzen Mannes gewarnt hatte. War es möglich, dass dieses Wesen – Dämon, Ungeheuer, was immer es sein mochte – das Amulett mit einem Zauberspruch zerstört oder zumindest überlistet hatte?

Vorsichtig setzte Dorn sich auf und sah sich nach seinem silbernen Hexerschwert um. Kein Glück. Der Schwarze musste es mitgenommen haben. Ein zweites, nicht für Ungeheuer reserviertes Schwert, hatte Dorn unvorsichtigerweise nicht mitgebracht. Der Hexer fluchte und schüttelte ungläubig den Kopf. Seine bisherige Jagdbeute, so schnell und gefährlich sie auch gewesen sein mochte, war im Vergleich zu diesem Ungeheuer schwerfällig und unbeholfen vorgegangen. Und dennoch schien es ihm unbegreiflich, dass jemand – etwas – ihn so leicht hatte besiegen können.

Er stand auf und ging ein paar unsichere Schritte. Seiner Silberklinge beraubt, fühlte er sich hilflos wie ein neugeborenes Lamm. Aber natürlich war er während seiner Ausbildung auch auf diesen unwahrscheinlichen Fall vorbereitet worden. „Wenn du kein Silber zur Hand hast, suche das Feuer. Feuer ist dein Freund, es wirkt auf natürliche Bestien ebenso wie auf unnatürliche und hält die Dunkelheit fern.“ Die Worte seines Lehrmeisters.

Offensichtlich hatte sich während seiner Ohnmacht niemand um das Lagerfeuer gekümmert, Flammen waren keine mehr zu sehen, nur etwas Glut. Vielleicht gerade noch genug, um das Feuer mit etwas trockenem Holz wieder in Gang zu bringen. Und dort, wie ein Geschenk der Götter, lag seine Ausrüstung auf einem Haufen, unberührt wie eine Jungfrau im Paradies. Keine großen Waffen allerdings, nur ein gutes Jagdmesser und drei Fackeln, die er in glücklicher Voraussicht und „nur für den Fall“ mitgebracht hatte.

Eilig steckte er eine der Fackeln in die glühende Asche, tat einen tiefen Atemzug und blies mit aller Kraft auf das pechbedeckte Tuch, mit dem sie umwickelt war. Dies wiederholte er drei oder vier Mal, bis kleine Flammen die Fackel einhüllten. Dann befestigte er die beiden anderen am Gürtel, nahm das Jagdmesser in die Linke und die brennende Fackel in die rechte Hand und richtete sich auf. Seine Chancen, hier lebend herauszukommen, standen noch immer schlecht, bedachte man die Geschwindigkeit, mit der das Monster sich bewegt hatte, aber dennoch fühlte er sich jetzt eindeutig besser.

Die aufflackernde Fackel und sein verbessertes Augenlicht nutzend, inspizierte er die dunklen Ecken und kaum erhellten Winkel zwischen den zusammengebrochenen Resten der Treppe und den Säulen und befand, dass er in der Dunkelheit des großen Raums, der einst die Eingangshalle des Ritterguts gewesen sein mochte, alleine war. Mit Sicherheit hatte sich der Schwarze irgendwo versteckt, vielleicht in den oberen Stockwerken, und beobachtete ihn jetzt aus sicherer Entfernung. Selbst wenn die Dinge, die Dorn in seinem seltsamen Traum gesehen hatte, der Wahrheit entsprachen – selbst wenn dieses Monster einmal ein Mensch gewesen war – musste der Fluch, der auf ihm lastete, ihn inzwischen zu einem erbarmungslosen Ungeheuer gemacht haben, einer mörderischen Bestie voller Abscheu und Hass gegen seine einstigen Mitmenschen, die ihn nun fürchteten und jagten und zu töten suchten. Immerhin hatte Dorn seinen Schlupfwinkel gefunden. Das alleine sollte Grund genug sein, ihn beseitigen zu wollen, ganz abgesehen davon, dass Dorn nur wegen des Geldes hierher gekommen war, das der hässliche schwarze Kopf des Monsters ihm einbringen würde. Alles in allem war Dorn überzeugt, dass der einzige Grund, dass er noch lebte, darin lag, dass der Schwarze noch nicht genug Spaß mit dem Hexer gehabt hatte. Ihr Herrschaften, er hatte sogar die brennenden Schmerzen in Kauf genommen, die ihm das Silber des Hexerschwerts bereitet haben mussten, als er es mitnahm, nur um noch ein bisschen Katz und Maus mit ihm spielen zu können ... Nun ja, vielleicht hatte der schlaue Hundesohn sich mit einem Stück dicken Leders gegen die beißende Berührung des Silbers geschützt, aber dennoch ...

„Leck mich doch“, spuckte er in die Dunkelheit, „bringen wir's hinter uns, Schwarzling!“

Er konnte es nicht ausstehen, auf der falschen Seite der Schwertklinge zu stehen und den Todesstoß des Gegners erwarten zu müssen. Der Tod war auf Dorns Reisen immer ein allzu treuer Begleiter gewesen, aber das Gefühl, nicht vorhersehen zu können, wann und wie er zuschlagen würde, das war die Hölle auf Erden.

„Komm schon, Schwarzer Mann“, rief er laut, als aus der umgebenden Finsternis keine Reaktion kam. „Willst du mir nicht den Rest deiner traurigen und sicherlich ganz ungeschönten Lebensgeschichte erzählen?“

Halb in der Erwartung, auch jetzt wieder keine Antwort zu bekommen, fuhr Dorn tatsächlich leicht zusammen, als er doch etwas zu hören bekam. „Hilfe“, drang eine dünne, hohe Stimme aus dem Dunkel vor und scheinbar unterhalb von ihm, „ich bin hier unten! Hilfe!“

„Scheiße“, flüsterte Dorn überrascht. „Er hat eine am Leben gehalten.“ Die Tatsache, dass er mit sich selbst sprach, war ein deutlicher Hinweis, dass er sich jetzt in einem Zustand echter Angst befand, eine Erfahrung, die er in den fast zwei Jahrzehnten seiner Hexerkarriere nicht allzu oft hatte machen müssen. Mit der Angst im Nacken dachte es sich schlecht, aber aus irgendeinem Grunde hatten Selbstgespräche immer geholfen, so albern man sich dabei hinterher auch fühlen mochte. „Also gut, sehen wir mal. Irgendwo muss es einen Abstieg in den Keller geben. Aber was, wenn ...“ Unsinn. Die ganze Ruine war eine einzige Falle. Wieso sollte der Schwarze Mann ihn noch weiter hineinlocken wollen?

„Er will mir etwas zeigen. Deshalb hat er mich auch am Leben gelassen. Noch eine Sache, die ich sehen soll, bevor er es zu Ende bringt ...“

Weiter vor sich hin fluchend suchte er die Ruine der großen Treppe nach einer Öffnung ab, die ihn nach unten führen würde, und fand schließlich ein von den Überresten großer hölzerner Türflügel umrahmtes Loch in der Rückwand der Treppe. Er musste es erst von einigen größeren Brocken Schutts freiräumen, was den Schluss nahelegte, dass es schon lange nicht mehr als Eingang zu den Kellergewölben benutzt worden war. Wer immer dort unten um Hilfe rief, war nicht auf diesem Weg dorthin gelangt. Es musste noch andere Eingänge geben, die aber wohl nur Leuten zugänglich waren, die das Gelände gut kannten.

Dorn stellte (nicht nur im übertragenen Sinne) die Ohren auf und lauschte in die Finsternis des vor ihm liegenden, unbeleuchteten Treppenschachts hinab. Da war es wieder. Ein leises Wimmern und Schluchzen, mehr zu erahnen als zu hören. Langsam, mit weit vorgereckter Fackel und stoßbereitem Jagdmesser, machte der Hexer sich an den Abstieg.


* * *


Osvaldt, der wohlhabende Müller von Aarding, ein Mann, den seine Zeitgenossen trotz seiner manchmal grausamen und streitsüchtigen Art eher als stets gut gelaunt, großzügig und gesellig beschrieben hätten, war einer der Ersten gewesen, die das Monster zu sehen bekommen hatten. In einer klaren, warmen Sommernacht vor über einem Jahr, auf dem Nachhauseweg vom Zechgelage hatte er die große, gebückte Gestalt sich vor dem silbrigen Band des Mühlbachs bewegen sehen. In seinem angetrunkenen Zustand hatte der massige Müller zunächst nicht bemerkt, dass etwas an dieser pechschwarzen Silhouette absolut falsch war und sie für einen weiteren späten Wanderer, vielleicht einen Landstreicher oder gar Einbrecher gehalten, der sich für seine Mühle interessierte. „Heda“, hatte er freudig erregt ausgerufen (wie er sich immer anhörte, wenn er eine Gelegenheit sah, besonderen Spaß zu haben). „Was schleichst du hier an meiner Mühle herum?“ Er griff nach der Axt in seinem Gürtel und nestelte sie hervor. Ihr Gewicht in seiner Hand fühlte sich sehr gut an.

Eine Sekunde lang hatte das Ding ihn direkt angesehen, ohne die geringste Überraschung oder Furcht zu zeigen. Erst jetzt sah der Müller, dass trotz des Mondlichts keinerlei helle Farben an der Erscheinung des Wesens waren, nur Schattierungen von Schwarz. Er sah die klauenartigen Hände, den weiten Umhang und diese seltsamen, schwarzen Augen, in deren Feuchtigkeit sich das helle Mondlicht spiegelte. „Was ... was zum Teufel bist du?“, hatte der Müller, schlagartig nüchtern geworden, mit weit aufgerissenen Augen noch keuchen können. Dann hatte das Monster, geschickt und schnell wie eine große Raubkatze und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, die Straße überquert und war im nahen Wald verschwunden. Der riesenhafte Müller, dem es selten vor irgendetwas gegraust hatte, blieb atemlos zurück und rieb sich ängstlich seine Halbglatze. Seine Gedanken rasten, aber irgendwo in seinem Innern sagte bereits jetzt eine Stimme, dass diese seltsame Begegnung noch ungeahnte Folgen haben würde.


* * *


Während er vorsichtig seine Füße auf die trügerischen, abbröckelnden Steinstufen setzte, begann der Hexer unbewusst die Melodie zu einem alten Rüttelreim aus seiner Kindheit zu summen. Eins, zwei, drei, vier, der Schwarze Mann kommt heut zu dir. Fünf, sechs, sieben, acht, benimm dich recht, sonst hast du ... „Dämlicher Mist, das reimt sich noch nicht mal richtig.“

Die Enge des Treppenschachts öffnete sich in ein vier bis fünf Meter hohes Kellergewölbe, an dessen Wand entlang die Treppe einigermaßen unbeschädigt bis zum Boden hinabführte. Dorns Fackel konnte den riesigen Raum nur unzulänglich erleuchten, der in früheren Zeiten wahrscheinlich Unmengen von Fässern, Körben und Regale voller Krüge, Weinflaschen und getrockneten Lebensmitteln enthalten hatte. Jetzt gab es fast nur noch Staub, Spinnengewebe und Geröll.

Dorn erstarrte. Im Zentrum des Gewölbes war gerade noch so die Gestalt eines stämmigen, jungen Mannes mit blondem Lockenkopf zu erkennen, der mit ausgestreckten Armen auf dem Boden kniete, sodass sein Körper den Buchstaben Y formte. Beide Handgelenke waren mit festen Lederbändern an eisernen Ringen befestigt, die in zwei Steinsäulen getrieben worden waren. Vor dem Jüngling lag leblos in einem traurigen Häufchen eine offenbar ebenfalls recht junge Frau in waidblauem Gewand, deren langes schwarzes Haar ihr Gesicht fast vollständig bedeckte. Ihre Hände waren unter ihrem auf der Seite liegenden Körper eingeklemmt und schienen etwas zu umklammern, das Dorn aber nicht erkennen konnte.

Als das Licht ihn erreichte, sah der stämmige junge Mann auf, blinzelte und keuchte: „Hexer. Pass auf! Das Ungeheuer ist noch irgendwo hier.“ Seine Stimme, die Dorn als tief und betont maskulin in Erinnerung hatte, war offenbar vor Angst und Erschöpfung hoch und dünn geworden, weshalb er sie zunächst nicht als die eines Mannes erkannt hatte.

Der Hexer hatte den blondgelockten Jüngling bereits flüchtig kennengelernt. Es war Pedar, der einzige Sohn des Müllers Osvaldt. „Was machst du hier? Und wer ist das Mädchen?“, fragte der Hexer misstrauisch, als er sich den beiden näherte. Mit seinen übermenschlichen Augen versuchte er die vielen Schatten und Finsternisse des Gewölbes zu durchdringen, aber der Raum war noch größer und dunkler als es die Eingangshalle bereits gewesen war. Viel zu viele dunkle Winkel, in denen sich der Schwarze Mann verbergen konnte.

„Ich ... ich weiß nicht. Sie lag schon hier, als mich das Ungeheuer reingeschleppt hat. Sie muss sein letztes Opfer gewesen sein.“

Dorn hatte die Säulen erreicht und ging neben dem Mädchen in die Knie, um an ihrer Halsschlagader nach dem Puls zu fühlen. Er war überrascht, ein langsames, aber deutliches Pochen zu spüren. „Sie lebt! Wir müssen sie -“

„Natürlich lebt sie“, flüsterte der Schwarze Mann. „Ich kam gerade noch rechtzeitig. Mach dir keine Gedanken um sie, ich habe ihr eine spezielle Kräutermischung verabreicht, damit sie einen langen, hoffentlich traumlosen Schlaf genießen kann. Mit etwas Glück wird sie sich nicht einmal daran erinnern, was bei ihrem heimlichen Treffen mit Pedar hier passiert ist.“

„Nicht!“, krächzte der Sohn des Müllers. „Nicht hinhören! Er lügt!“ Das ausgeprägte Kinn des jungen Mannes, von dem die Tränen tropften, sackte auf seine Brust und er begann, noch mehr zu schluchzen und unverständlich zu stöhnen.

„Es ist immer dasselbe“, flüsterte der Schwarze Mann. Die Worte scheinen sich tausendfach in den Ecken und Erkern des Gewölbes zu brechen, wodurch sie kaum zu verstehen waren. Es schien unmöglich, den Standort des Sprechers ausfindig zu machen. Dorn wusste, dass die Geräusche in einem Gewölbe wie diesem die Sinne täuschen konnten. Der Flüsterer konnte sich gleich in der Nähe aufhalten oder in sicherer Entfernung an einer der entfernteren Wände hinter einer Säule stehen.

„Einige Zeit, nachdem ich mich an einem Ort niedergelassen habe, der mir zusagt“, fuhr der Schwarze Mann fort, „selbst in den hinterwäldlerischsten, götterverlassensten Gegenden, bekommen die Leute Wind von meiner Anwesenheit. Gerüchte und Sichtungen machen die Runde. Und dann, vielleicht nach einem Jahr, vielleicht nur nach ein paar Tagen, kommt irgendjemand auf die Idee, mich zu seinem Vorteil zu nutzen. Ein Viehdiebstahl bei Nacht und Nebel? Muss der Schwarze gewesen sein. Ein grausamer Mord in den Wäldern? Klar, der arme Kerl hatte seine Feinde, aber – es geht etwas Böses um dort draußen im Wald, sag ich euch ...!“

„Wollt Ihr mir erzählen, dass Ihr unschuldig seid? Dass dieser Junge hier die Frauen geraubt und getötet hat?“

„Nein. Er ist nur der Köder. Der Fänger. Erledigt die Drecksarbeit. Vielleicht reibt er sich ein bisschen an ihnen, wenn sie bewusstlos sind, aber er tötet sie nicht. Frag ihn. Frag ihn, warum seine Mutter so jung sterben musste. Sie ist nicht wirklich gestolpert und die Treppen zum Mühlrad hinabgestürzt, wenn du verstehst, was ich meine.“

Dorn fluchte wieder einmal. Das Schlimmste war, das alles machte einen grausamen Sinn. Deshalb hatte es dem riesigen Müller nicht behagt, einen Hexer herbeizurufen. Er brauchte das Ungeheuer noch, um seine eigenen mörderischen Pläne zu schützen. Offenbar war ihm aber nicht in den Sinn gekommen, dass dieses spezielle Ungeheuer genauso schlau, gefährlich und grausam sein konnte wie er selbst. Gar nicht gut, dachte Dorn. Die Dorfältesten würden zufrieden sein und ihn gut bezahlen, wenn er ihnen den unmenschlich aussehenden Kopf eines Monsters brachte. Aber wenn er stattdessen zwei menschliche Köpfe brachte, wenn er auch nur andeutete, zwei der braven Bürger von Aarding könnten gemeingefährliche Vergewaltiger und Mörder sein, würden sie ihm gar nichts zollen, nicht einmal ihre Aufmerksamkeit.

„Wie lange hat er euch hier festgehalten?“, fragte er den knienden Jüngling.

„Weißnich“, Schluchzen und Seufzen, „mindestens einen ganzen Tag ...“

„Beinahe zwei Tage und zwei Nächte“, kam das Flüstern des Schwarzen Mannes wieder. „Ich hatte gehofft, du würdest diesen Ort früher finden. Wie du sagtest, es ist ein ziemlich offensichtliches Versteck.“

„Ha. Grausam bist du, ohne Zweifel.“ Aber vielleicht, vielleicht, tatsächlich kein Monster, dachte Dorn. Deshalb hatte das Amulett ihn nicht gewarnt. Der Schwarze Mann war etwas Unnatürliches, eine Mutation, die irgendwie durch den Fluch hervorgerufen worden war. Aber offensichtlich war er kein bösartiges Ungeheuer. Soviel schien festzustehen. Doch noch immer war nicht auszuschließen, dass er einen Groll gegen alle Hexer hegen konnte, die ihn wahrscheinlich nicht zum ersten Mal jagten und dass er Dorn nicht einfach so abzuziehen erlauben würde, nachdem dieser ihn für ein paar Silbermünzen Belohnung hatte töten wollen.

Der Hexer straffte sich, bereit bei der geringsten Bewegung in der Dunkelheit in Abwehrstellung zu gehen. Er trat vor den knienden Jüngling und schnitt seine Fesseln durch, die ihn in dieser unnatürlichen Haltung fixiert hatten. Trotz seiner kräftigen Statur brach der junge Mann auf der Stelle zusammen und sackte zu Boden. Dorn versuchte nicht einmal, ihn aufzufangen. Zwei Tage und Nächte Todesangst, Verzweiflung und Schlaflosigkeit konnten selbst einem stämmigen und jungen Körper wie diesem die letzte Kraft rauben. Aber der junge Mann würde sich sicher schnell erholen. Dorn entschied sich, ihm ein paar Minuten zu geben. Zumindest hatte er endlich mit dem Schluchzen und Wimmern aufgehört.

„Also ... ähm ... Herr Schwarzer Mann, wenn ich Euch weiter so nennen darf ... Es scheint, dass Ihr sie doch nicht bei lebendigem Leib auffresst. Die Kinder, die Ihr in den Märchen immer aus ihren Häusern raubt, meine ich. Während ich mich um die beiden hier kümmere, könntet Ihr mir den Rest Eurer Geschichte erzählen. Und wäre es zu viel verlangt, wenn ich mein Schwert wiederhaben dürfte?“

„Das wäre es in der Tat. Es gibt Leute, die behaupten, dass man deinesgleichen nicht trauen kann. Du könntest dich immer noch entscheiden, dass du dir die übrigen drei Viertel des Kopfgeldes für mich nicht entgehen lassen willst. Was meine Geschichte angeht – es wundert mich doch ein wenig, dass ich dein Interesse geweckt habe.“

„Rein beruflich. Eure ...Verwandlung. Geschah das alles in einer einzigen Nacht?“

„Nein. Es begann mit meiner rechten Hand, wie ich dir erzählt habe. Danach breitete sich die Schwärze langsam aus, wie eine Fäulnis oder Wundbrand. Aber ohne Fieber, Entzündung oder Schmerzen. Nur mehr und mehr Schwarz und manchmal ein Pochen oder Jucken. Meine Großmutter brachte mich zu mindestens einem Dutzend Ärzte, Bader und Zauberer im ganzen Land. Sie wurde fast verrückt vor Selbstvorwürfen, als niemand es aufhalten konnte. Und dann, eines Tages, erzählte sie uns, dass sie das Zeichen des schwarzen Fluchs an sich selbst entdeckt hätte. Alles, was ich liebe und berühre, weißt du. Das waren die Worte des Fluchs.


* * *


Schon nach seiner ersten, kurzen Begegnung mit dem Schwarzen war Osvaldt dem Müller klar geworden, dass dies kein gewöhnliches Monster, keine tierhaft dumme Bestie sein konnte, wie es von Werwölfen, Ghulen und dergleichen berichtet wurde. Deshalb fühlte er sich nicht allzu wohl dabei, als er sich später entschloss, es für seine Pläne zu benutzen. Was, wenn das Ungeheuer schlau genug war herauszufinden, für wessen Taten es verfolgt wurde? Was, wenn es irgendwann aufhörte, sich zu verstecken und sich die holen würde, die für seine Verfolgung verantwortlich waren?

Aber die Gelegenheit war zu gut, um sie einfach vorbeiziehen zu lassen. Wahrscheinlich würden die dummen Dörfler das Monster ja eh irgendwann für alle möglichen Dinge verantwortlich machen. Nach dem Tod seiner Frau hatte der Müller ganz einfach zu lange nur noch davon geträumt, es wieder passieren zu lassen. Wieder und wieder. Der erste Mord war in einem rauschhaften Anfall passiert, ja. Diese verdammte eingebildete Schlampe, die stattliche Frau des Schmieds, hatte ihn dazu gebracht, all diese bösen, hässlichen Dinge zu tun, soviel war sicher. Sie hatte wahrlich selbst am meisten Schuld daran, was mit ihr geschehen war, so lange, wie sie ihn gereizt und verspottet hatte. Pedar hatte sich schon damals als williges Instrument erwiesen und alle Spuren des Mordes beseitigt. Dann hatten sie beide dafür gesorgt, dass die Gerüchte über das Monster in Umlauf kamen. Und schon beim nächsten Mord, vor jetzt sechs Monaten, war Pedar ihm bei der Planung, der Jagd und der Ausführung der Tat kräftig zur Hand gegangen. Osvaldt erledigte die Denkarbeit, Pedar war sein verlängerter Arm, sein Instrument, nicht allzu scharfsinnig, aber dafür recht effektiv.

Als sein Sohn letzte Nacht nicht nach Hause gekommen war, hatte Osvaldt sofort an das Monster denken müssen. Es wäre zwar beileibe nicht das erste Mal gewesen, dass Pedar irgendwo im Gebüsch seinen Rausch ausschlief, aber Osvaldt hatte ihm eingebläut, sich keine Blöße zu geben, nicht zu zechen und sich vor allem von den Weibern fernzuhalten, solange der Hexer in der Nähe war. Aber der Müller wusste auch, dass es Pedar wie wahnsinnig juckte, mal wieder etwas besonderen Spaß zu haben. Falls er sich entschlossen hatte, ohne seinen alten Mann auf die Jagd zu gehen, war er wahrscheinlich mit seiner Jagdbeute zur Ruine des Ritterguts gegangen. Dort hatten sie auch das erste Opfer hingebracht, um es später im Wald zu verscharren. Und dort konnte ihn entweder das Monster oder der Hexer selbst aufstöbern.

Jetzt war die zweite Nacht, in der Pedar nicht in der Mühle erschienen war, bereits weit fortgeschritten und Osvaldts böse Vorahnung hatte sich in Furcht und Wut umgewandelt, angefacht von einer ganzen Flasche temerischen Wodkas. Betrunken, fluchend und zischend machte der riesenhafte Müller von Aarding sich auf, dem alten, verfluchten Rittergut einen Besuch abzustatten. Er kannte einen geheimen Gang, der ihn von einer gut im Unterholz verborgenen Spalte im Felsenhügel direkt in die Kellergewölbe des Guts führen würde. Dort würde er weitersehen.


* * *


Alles, was ich liebe und berühre.

Trotz vieler Nachforschungen weiß ich noch immer nicht genau, welche Kräfte es sind, die beim Aussprechen eines Fluches geweckt werden. Die Götter sind es wohl nicht und wohl auch sonst keine mit nennenswertem Verstand ausgestatteten Geistwesen, denn wenn ich etwas weiß, dann ist es, dass diese Mächte unglaublich dumm sind und ohne jeden Verstand agieren. Ich kann Dinge berühren, ohne dass irgendetwas passiert. Ich kann jemanden oder etwas aus der Entfernung lieben, ohne zu riskieren, dass der Fluch wirksam wird. Nur, wenn beide Umstände gleichzeitig gegeben sind, wenn ich etwas berühre, dem ich von Herzen zugetan bin, schlägt der Fluch zu und lässt die Schwärze es verschlingen.

Heutzutage kann ich meine Gefühle kontrollieren, ich kann meinen Körper und den bewussten Teil meines Verstandes glauben machen, dass ich Dinge sehe und Gefühle habe, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Eine Technik, die ich bei einem weisen Schamanen in einem Land weit im Osten der Welt erlernt habe. Aber damals ...wann immer ich etwas anfasste, das mir etwas bedeutete – mein altes Spielzeugschwert, mein Hund, sogar ein altes Kleidungsstück, mit dem ich irgendeine schöne Kindheitserinnerung verband – färbte es sich langsam aber unaufhaltsam schwarz. Manchmal war das einfach nur lachhaft, meistens aber machte es mich schier wahnsinnig. Der Gedanke, mich selbst umzubringen, um diese würdelose Farce zu beenden, lag nahe, aber – wie auch bei späteren Gelegenheiten, an denen ich daran dachte, konnte dieser Gedanke meinen Zorn und meinen unbändigen Lebenswillen nicht überdauern. Alles, was ich tun konnte, war, mich von allen, die ich liebte, fernzuhalten. Ich verbarg mich, so oft es ging, im Wald, in einem der Türme des Guts oder in diesen Kellergewölben hier.

Nur ein paar weitere Jahre Knappendienst am Hof des Grafen hätten aus mir einen Ritter von Aarding gemacht, weißt du. Und nicht gerade einen tumben, unansehnlichen und unbelesenen. Vielleicht etwas langweilig, aber durchaus stattlich und ritterlich ... Vielleicht ist aber alles so zum besten, wie es gekommen ist. Meine Verwandlung hat mich einiges über das Leben und die Menschen gelehrt, das mir sonst für immer verborgen geblieben wäre. Und zugegeben – der Fluch hat seltsamerweise auch seine Vorteile. Langlebigkeit, unglaublich schnelle Reflexe, Gedankenlesen. Alles unverzichtbare Eigenschaften, wenn man ständig verfolgt wird und bereit sein muss, in den Schatten zu verschwinden.

Meine junge Frau war die einzige Person, die ich jemals willentlich berührt habe, nachdem der Fluch mich getroffen hatte, nämlich als ich sie am Morgen nach unserer Hochzeitsnacht vom Schreien abhalten wollte, als sie meiner veränderten, klauenartigen Hand gewahr wurde. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich einfach noch nichts über die möglichen Konsequenzen. Die Tatsache, dass der Fluch sie trotzdem nicht mit der Schwärze schlug, bedeutet wohl, dass es wirklich nur eine Verstandes- und keine Liebeshochzeit gewesen war.

Aber das war eine der wenigen guten Nachrichten in diesem „Jahr des Fluchs“ wie ich es nenne. Ansonsten hatte es viele böse Omen gegeben. Schwärzliche Totgeburten beim Vieh, die Ernte wurde von einer seltsamen Krankheit befallen, die die Blätter und Blüten schwarz überzog und noch an der lebenden Pflanze verwelken ließ. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, setzte der Winter in diesem Jahr besonders früh und hart ein und hungrige Wölfe kamen aus den Wäldern bis in die Dörfer hinein. Manchmal wurde behauptet, dass eine besonders große, pechschwarze Wölfin mit blauen Augen sie anführte, aber das mag nur eine Legende gewesen sein.

Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, begannen die guten Leute von Aarding, meinen Vater für diese bösen Omen verantwortlich zu machen. Weil er zuließ, dass dieses Ungeheuer, das nicht wirklich sein Sohn war, sondern ein scheußlicher, schwarzer Wechselbalg, weiter in der heilen Welt von Aarding verweilen und mit seiner Anwesenheit das Land vergiften durfte.

Als der Winter seinen Höhepunkt erreicht hatte, offenbarte meine Großmutter wie gesagt, dass sie das „Zeichen des Fluchs“, einen schwarzen Flecken, an sich gefunden habe. Zuerst dachte ich, dass ich sie irgendwann während unserer endlosen Reisen zu den Badern, Magiern und Heilern in diesem Sommer und Herbst ungewollt berührt haben musste. In derselben Nacht verließ sie heimlich das Rittergut, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen und ohne den geringsten Abschied zu nehmen. Als ihr treuer Diener uns schließlich alarmierte, war sie bereits im dichten Schneetreiben verschwunden und ihre Spuren waren vom frischen Schnee überdeckt. Ich habe keine Ahnung, was sie sich dabei dachte. Vielleicht hatte ihr der Aberglaube jetzt endgültig den Verstand geraubt oder sie hoffte, den Fluch beenden zu können, indem sie sich selbst an meiner statt opferte. Ich weiß es nicht. Um es kurz zu machen, wir fanden ihren steifgefrorenen Körper Tage später tief in den verschneiten Wäldern, unweit der Stelle, an der mehr als siebzehn Jahre zuvor auch die Leiche der Maienkönigin gefunden worden war. Und als die Heilkundigen ihren Körper untersuchten, fanden sie daran nicht die geringste Spur der Schwärze. Entweder fegt der Tod also die Schwärze des Fluchs hinweg oder – wie ich nicht umhin kann zu denken – der dunkle Flecken, den meine Großmutter entdeckt hatte, war eher in ihrer Seele zu finden gewesen denn an ihrem Körper. Übrigens wurde auch sie, wie die Maienkönigin, mit der Zeit eine Figur der lokalen Folklore – die Winterhexe, die manchmal gesehen wird, wie sie ziellos zwischen den schneebeladenen Bäumen umherirrt.

Inzwischen war das Rittergut fast völlig menschenleer. Meine junge Frau war auf die dunklen Offenbarungen nach der Hochzeitsnacht hin bereits nach wenigen Tagen zu ihrem Vater zurück geflohen. Meine drei Schwestern besuchten das Gut nicht länger, sondern versteckten sich bei ihren Ehemännern. Und dann fiel meine Mutter in tiefe Depressionen, die sich bald zu einer geistigen Umnachtung steigerten, sodass wir sie in eines von Meliteles Klöstern bringen mussten, wo man sich bis zu ihrem Tod viele Jahre später um sie kümmerte. Von unseren Dienern blieben nur eine Handvoll, die ältesten und treuesten, bei uns.

Als der Frühling des folgenden Jahres genauso dunkel und kalt blieb, wie das Jahr davor geendet hatte, entschieden die guten Bürger von Aarding, dass etwas gegen den schwarzen Dämon getan werden musste, der im Hause ihres Ritters lebte und das Land mit seinem unnatürlichen Fluch verdarb. Sie versammelten sich eines Nachts, komplett mit Mistgabeln, Dreschflegeln, Fackeln und allem, was dazugehört, und zogen schweigend zum Rittergut hinauf, um meine Herausgabe zu fordern. Mein Vater starb in dieser Nacht, er wurde einfach niedergeschlagen und zu Tode getrampelt, als er versuchte, sich alleine dem Mob entgegenzustemmen. Ich konnte nichts für ihn tun, da ich selbst um mein Leben kämpfte. Nur mit knapper Not gelang mir die Flucht, wobei ich mein neues Äußeres zum ersten aber beileibe nicht letzen Mal benutzte, um vor einem aufgebrachten Mob in der Dunkelheit zu verschwinden.

Ich gebe zu, dass ich aus niederen Motiven, aus Hass und Rachegefühlen handelte, als ich zwei Nächte später die drei Haupt-Rädelsführer des Mobs in ihren Häusern aufsuchte und tötete. Aber dies waren die einzigen Morde, derer ich mich je schuldig gemacht habe und niemals wieder habe ich mich von Wut und Zorn leiten lassen. Wie ich sagte, Hexer, du hast dich geirrt. Ich töte nicht aus Lust oder zum Spaß, wie irgendein Monster. Und es verlangt mich nicht danach, kleine Kinder zum Abendbrot aufzufressen. Obwohl ich zugegebenermaßen auch nicht allzu gut mit ihnen umgehen kann.

Von jenem Tage an habe ich immer auf der Flucht gelebt. Ich kann nicht zu lange an einem Ort verweilen, auch wenn er mir noch so gut gefällt, weil es immer Leute wie Pedar hier oder seinen Vater gibt. Aber eigentlich ist das kein allzu schlechtes Leben, wenn man besondere Fähigkeiten hat, die es erlauben, dass man sich nehmen kann, was man will, um dann damit in den Schatten zu verschwinden. Siehst du, mein Fluch hat zwei Seiten. Auf der einen Seite äußerste Dunkelheit und Einsamkeit, auf der anderen, wie gesagt, Langlebigkeit, schnelle Reflexe und das Gedankenlesen. All das hat mich weit in der Welt herumgebracht. In meiner Zeit habe ich mehr Ländereien bereist, mehr wundersame Dinge gesehen, als es den meisten Menschen beschieden ist und -


* * *


Das Flüstern endete abrupt in einem nassen Grunzen. Für einen Moment glaubte Dorn, dass Pedar die Gelegenheit ergriffen und sich davongeschlichen hatte, aber dann sah er, dass der blondgelockte Jüngling noch immer so lag, wie er zusammengebrochen war, nur dass er jetzt zu schlafen schien, genau wie das Mädchen.

„Schwarzer Mann?“, rief er, während er die Fackel hochreckte, sich langsam um sich selbst drehte, und versuchte, die Finsternis in den Winkeln, die der Feuerschein nicht erhellen konnte, mit seinen Augen zu durchdringen. „Was ist passiert? Wo ...“

Er fühlte die Bewegung hinter den Säulen eher, als dass er sie hörte oder sah. Sofort wandte er sich um und stieß die Fackel in diese Richtung, nur um die riesenhafte Gestalt des Schwarzen Mannes auf sich zustürzen zu sehen. Aber nicht so, als ob sie ihn angriff, nein. Beide Hände des Schwarzen Mannes waren um seinen Hals verkrampft und Blut – rotes, menschliches Blut – schoss zwischen den Fingern hervor. Dorn konnte nichts tun, als zuzusehen, wie das Ungeheuer, dass er zu töten hierher gekommen war, vor seinen Augen zusammenbrach und zu zittern begann, als ob es von einer unsichtbaren Faust geschüttelt wurde. Und ihm blieb keine Zeit, dem sterbenden Schwarzen Mann zu Hilfe zu eilen, da er jetzt sah, wie die Klinge seines eigenen Silberschwerts, von Blut bedeckt, gegen ihn geschwungen wurde.

Osvaldt der Müller hatte unglaubliches Glück gehabt, als er auf dem Weg in die Gewölbe das Versteck aufstöberte, in dem der Schwarze Mann sich selbst und das Hexerschwert verborgen hatte. Durch bloßen Zufall war er durch den Geheimgang direkt bei diesem Versteck angelangt, hatte das Schwert an der Wand lehnen sehen und das Ungeheuer seine Geschichte flüstern hören. Als er Pedars Namen hörte und seinen Sohn erkannte, der leblos neben dem Körper eines jungen Mädchens lag, war ihm klar geworden, dass seine einzige Chance darin bestand, sowohl den Schwarzen als auch den Hexer zu beseitigen. Also hatte er seine Angst vor dem Monster überwunden und mit unglaublichem Glück und trotz der Tatsache, dass er noch immer recht angetrunken war, den tödlichen Schwertstoß präzise von hinten gegen die Kehle des Wesens ausgeführt. Und jetzt schwang er die Silberklinge, von der das frische Blut sprühte, in hässlichen weiten Kurven gegen den Hexer, wobei ihm ein irres, triumphierendes Grinsen im Gesicht stand. Der Hexer war bis auf seine Fackel und ein kleines Messer unbewaffnet, wie es schien, und das erfüllte den mordlustigen Müller mit angemessener Zuversicht.

Nur seine hexerischen Reflexe und die Tatsache, dass er im Gegensatz zu dem Schwarzen auf einen Angriff zumindest ansatzweise gefasst gewesen war, bewahrten Dorn davor, dessen Schicksal auf der Stelle zu teilen. Ohne auch nur nachzudenken, duckte er sich, zog sich zurück und warf die hell auflodernde Fackel im hohen Bogen über die Halbglatze des dicken Müllers hinweg in das Dunkel des Gewölbes hinein, von wo ihr Licht sie kaum noch erreichen konnte, wenn sie nicht sogar ganz verlöschen würde. Da es keine anderen Lichtquellen gab, wurde es sofort dunkel um die beiden Kontrahenten. Dorn wich weiter in die Finsternis zurück, kauerte sich auf den Boden. Mit seinen mutierten Augen konnte er noch immer schwarz auf schwarze Umrisse erkennen, während der Müller praktisch blind sein musste.

Der dicke Riese hatte offenbar sein triumphierendes Grinsen verloren. Er schwang das Schwert jetzt ziellos im Halbkreis vor sich her, um den Hexer davon abzuhalten, ihn anzuspringen. „Bastard“, krächzte er, „warum konntest du nicht einfach die Münzen nehmen und deiner Wege gehen? Hör zu ...wir können immer noch einen Handel abschließen. Ich hab das Monster getötet, aber ich lass dir das Kopfgeld. Ich sag den anderen nichts, hörst du? Du kannst immer noch als Held abziehen und die Belohnung einsacken.“

Langsam zog Osvaldt sich zurück, um den Eingang und die Fackel zu erreichen, die glücklicherweise nicht verloschen war, wie ihm ein leichter Widerschein des neu aufflammenden Feuers an den Gewölbewänden verriet. Obwohl er seinen Sohn auf dem Boden hatte liegen sehen, war der Müller entschlossen, erst einmal nur für sein eigenes Wohlergehen zu sorgen. Verdammt. Mit Sicherheit wusste der Hexer inzwischen über die Morde bescheid. Er durfte ihn gar nicht entkommen lassen, soviel war klar. Aber wie tötete man einen Hexer, selbst wenn es einem gelungen war, sein Schwert zu stehlen? Von diesen Bastarden wurde behauptet, dass sie mehr Ähnlichkeit mit den Ungeheuern hatten, die sie jagten, als mit richtigen Menschen. Ihre Reflexe waren legendär.

Keuchend und trotz der Kühle des Gewölbes schwitzend wie ein Schmied bei der Arbeit, warf der mörderische Müller einen raschen Blick über seine Schulter. Ein kurzer Sprint würde ihn in den Lichtkreis der Fackel bringen. Dort hatte er wenigstens die Chance, den Hexer zu sehen, wenn er angriff. Ohne weiter nachzudenken, wandte er sich um und rannte. Er war erstaunlich schnell und gelenkig, im Anbetracht des Gewichts, das er in Bewegung setzen musste und des alkoholhaltigen Blutes, das in seinen Ohren rauschte. Innerhalb von Sekunden hatte er die Fackel erreicht und hob sie auf, während er sich gleichzeitig in die Richtung drehte, aus der er den Angriff erwartete.

In der Tat gab es eine Bewegung in der Dunkelheit. Eine Gestalt näherte sich schnell, aber irgendwie unbeholfen. Hatte er den Hexer verletzt? War er vielleicht schon vorher durch die Begegnung mit dem Ungeheuer angeschlagen gewesen? Das Grinsen stahl sich zurück in des Müllers pausbäckiges Gesicht. „Ich krieg dich doch“, krähte er, noch immer vom Wodka beseelt, „die Monster haben sich gegenseitig umgelegt, werden die Leute sagen. Ich muss nur die Spuren -“

Als die Gestalt aus dem Dunkel plötzlich auf ihn zusprang, unverständliche Laute ausstoßend, stieß der Müller ohne zu zögern mit dem Silberschwert zu, so hart er konnte. Der Griff entglitt ihm, aber die Klinge war mit einem grässlichen Geräusch tief genug in die Herzgegend eingedrungen. Oswaldt brüllte vor betrunkener Freude laut auf. Und erkannte erst jetzt die weit aufgerissenen Augen und blonden Locken des jungen Mannes, dem er gerade den Todesstoß versetzt hatte. Der Triumphschrei endete in einem Geräusch äußerster Verständnislosigkeit und Bestürzung. Osvaldt, der wohlhabende Müller von Aarding, der in seiner Zeit einen Gutteil Schmerz und Tod über die Menschen gebracht hatte, war völlig überrascht von der Tatsache, dass jemand ihm seinerseits Schmerz zufügen konnte und dass er selbst die Jagdbeute sein konnte. Er vergaß beinahe, sich zu wehren, als Dorn in seine massige Gestalt rannte, um ihn zu Fall zu bringen. Der folgende, schweigend ausgeführte Kampf auf dem Boden des Kellergewölbes war kurz aber hässlich und endete in einem gurgelnden Röcheln, in dem die blanke Enttäuschung und Bestürzung des Müllers mitschwang. Schreien konnte er nicht mehr.

Endlich erhob Dorn sich von der Arbeit dieser Nacht, schwer atmend, von Blut bedeckt. Vier Körper lagen auf dem steinigen Boden. Nur einer davon atmete noch. Die beiden Monster waren tot. Und der verfluchte Sohn des letzten Ritters von Aarding, der fast einhundertundzwanzig Jahre lang als Schwarzer Mann in der Welt umhergestreift war, lag ebenfalls reglos in seinem Blut. Der Tod hatte die Schwärze seines Fluchs nicht hinweggefegt.

Nur das unbekannte Mädchen, das wahrscheinlich vom Sohn des Müllers hierher gebracht worden war, hatte überlebt und dank der Kräuter des Schwarzen Mannes das ganze tödliche Schauspiel einfach verschlafen. Dorn musste sie zum Dorf bringen. Und dann ... Nun, es hatte nicht viel Sinn, zu versuchen, den Dorfältesten die drei vom Schwert des Hexers gefällten Toten erklären zu wollen. Wer von den dreien ein Monster gewesen war und wer nicht, das würde seine Auftraggeber nicht wirklich interessieren. Am besten, er lieferte das Mädchen an der nächstbesten Bauernkate ab und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Sollten sich die Dorfältesten selbst einen Reim auf die ganze Geschichte machen. Wahrscheinlich würden sie es sich beim nächsten Mal schwer überlegen, bevor sie wieder einen Hexer zur Hilfe riefen, aber nach allem, was er von anderen Hexern gehört hatte, war das in komplizierteren Fällen wie diesem meistens so. Dorn überlegte kurz, ob er die Anzahlung auf seine Belohnung zurückgeben sollte, entschied aber dann doch, dass ihm wenigstens eine symbolische Entschädigung zustand.

Er zog die Silberklinge aus dem Leib des Müllersohns und wischte sie an den Kleidern des Vaters ab. Silberschwerter waren für Monster reserviert, allerdings. Dann schnallte er das Schwert um, bückte sich und wand die noch immer hell brennende Fackel aus der Hand des toten Müllers, um sich dem Mädchen zuzuwenden – und erstarrte.

Das unbekannte Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, das beinahe Pedars Opfer geworden war, stand am Rande der Dunkelheit, im Flackern des Flammenscheins. Noch vor einer Minute, als Dorn gekommen war, um den langsam wieder zu Bewusstsein kommenden Pedar als lebenden Schild zu benutzen, hatte sie noch reglos auf dem Boden gelegen, offenbar fest schlafend. Doch jetzt stand sie da – Augen weit offen, aber nicht im geringsten verständnislos oder unwissend – und ihre Hände umklammerten noch immer den Gegenstand, den Dorn zunächst nicht hatte erkennen können, weil sie halb darauf gelegen hatte: eine aus Zweigen und weißen Blüten geflochtene Krone.

„Du trägst Sein Zeichen“, sagte die schöne Maikönigin von Aarding und sah ihm direkt in die Augen, „der Erbe ist tot, aber der Fluch des Dunklen Herren der Wälder lebt weiter.“

„Nein!“, sagte Dorn, „Ihr Götter, nein!“


* * *


Heutzutage kann ich meine Gefühle kontrollieren, ich kann meinen Körper und den bewussten Teil meines Verstandes glauben machen, dass ich Dinge sehe und Gefühle habe, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind.

Du irrst dich, teuerster Freund. Es gibt keinen Namen für das, was ich bin.

Alles, was ich berühre und liebe, weißt du.

Der pochende Schmerz in seiner Stirn, wo der Schwarze Mann ihn mit der Handfläche berührt hatte.

Sein Gesicht in der Silberklinge. Es färbte sich schwarz.

Der Riese im Feuer, seine Augen sind auf mich gerichtet. „Du bist mein. Deine Seele gehört mir.“


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Anm. d. Red.: Eine fantastische Geschichte, nicht wahr? Wenn ihr dem Autor gern etwas Feedback hinterlassen wollt, könnt ihr das am einfachsten über unseren » Diskussionsthread tun.

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